Ursula Poznanskis neuer Thriller Shelter zeigt das Thema Verschwörung aus einer spannenden und neuen Perspektive. Zuletzt lieferte die Corona-Pandemie und besonders die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie Zündstoff für neue Verschwörungstheorien.
Doch was macht eine Verschwörungstheorie aus? Wieso glauben Menschen an Verschwörungen und was macht sie gefährlich? Diese und weitere Fragen haben wir Herrn Professor Claus Oberhauser in einem Interview gestellt. Er forscht bereits seit einigen Jahren auf dem Gebiet der Verschwörungstheorien. Nach seinem Studium und der Promotion in den Geschichtswissenschaften und der Europäischen Ethnologie an der Universität Innsbruck lehrt und forscht Professor Oberhauser heute an der Pädagogischen Hochschule Tirol in Innsbruck. Neben dem Feld der Verschwörungstheorien beschäftigt sich Prof. Oberhauser unter anderem mit der Globalgeschichte und Politischer Bildung.
Loewe Verlag: Herr Prof. Oberhauser, vielen Dank, dass Sie sich als Wissenschaftler mit Forschungsschwerpunkt Verschwörungstheorien die Zeit nehmen, uns einige Fragen zu beantworten. Wie definieren Sie aus wissenschaftlicher Sicht eine Verschwörungstheorie?
Prof. Claus Oberhauser: Eine Verschwörungstheorie ist die Annahme, dass ein Ereignis, ein Zustand oder eine Entwicklung auf den Plan einer Gruppe von Verschwörern zurückzuführen ist, und dass diese Gruppe im Verborgenen und aus unlauteren Motiven handelt.
Loewe Verlag: 2020 stand bei der Suche nach dem „Wort des Jahres“ auf Platz 3 der Begriff „Verschwörungserzählung“. Haben Sie den Eindruck, dass die Anzahl von Verschwörungstheorien in den letzten Jahren zugenommen hat?
Oberhauser: Historisch gesehen gab es früher Epochen, in denen Verschwörungstheorien wesentlich häufiger anzutreffen waren. Aber gerade in den letzten Jahren sind Verschwörungstheorien stärker wahrnehmbar und extremer geworden.
Loewe Verlag: Das ist interessant. Das heißt ja, der Eindruck, dass Verschwörungstheorien insbesondere ein Phänomen der heutigen Zeit seien, ist tatsächlich eher subjektiv. Warum sind Verschwörungstheorien denn ausgerechnet seit einigen Jahren wieder so präsent?
Oberhauser: Seit ca. 2001 gab es verschiedene Krisen wie die Weltwirtschaftskrise oder die sogenannte „Flüchtlingskrise“, und nun die Pandemie. All das hat zu einer Verstärkung des Phänomens beigetragen. Da in der Pandemie „der Staat“ in die Lebensweise eingegriffen hat, führt(e) dies zu einer starken Gegenbewegung. Es ist in der Forschung schon lange bekannt, dass sich moderne Verschwörungstheorien häufig gegen den Staat oder staatliche Interventionen richten.
Loewe Verlag: Sie erwähnen die Gegner der Corona-Maßnahmen, von denen ein Teil in der Querdenker-Bewegung hervorgegangen ist. Inwieweit spielt das Internet bei den Querdenkern und allgemein bei der Verbreitung von Verschwörungstheorien eine Rolle?
Oberhauser: Das Eingesperrtsein hatte zur Folge, dass verschiedene Verschwörungstheorien vor allem via Social Media einfach miteinander verbunden werden konnten. Das Internet macht gemeinsam mit den sozialen Medien sogenannte „Stammtischparolen“ deutlicher sichtbar. Außerdem kann man sich viel besser und schneller (inter-)national vernetzen und die Verbreitung kann durch einen simplen Mausklick vonstattengehen.
Loewe Verlag: In Ursula Poznanskis Thriller Shelter erfindet eine Gruppe Studierender eine Verschwörung (www.oc-verschwoerung.de) und verbreitet diese. Was als Spaß im Internet gedacht war, entwickelt sich zu einer realen Gefahr, die nicht mehr zu stoppen ist. Wie entwickeln Verschwörungstheorien so schnell eine Eigendynamik, die dann kaum mehr aufzuhalten sind?
Oberhauser: Verschwörungstheorien müssen einen Nährboden haben, damit sie sich schnell entwickeln können. Wenn man einfach nur eine abstruse Geschichte erfindet, ist das alleine nicht wirksam genug. Es braucht dazu einen Kontext, meistens eine Angstvorstellung (z. B. 5G-Strahlung, eine bedrohliche Geheimgesellschaft usw.) und häufig spielen auch althergebrachte Sündenböcke eine Rolle bzw. mythenhafte Bestände des kulturellen Archivs der Ausgrenzung. Deshalb sind auch gesamtgesellschaftliche Krisen ein Auslöser für verschiedene Verschwörungstheorien, weil diese eben bezwecken, dass die Welt aus den Fugen gerät.
Loewe Verlag: Wieso sind manche Menschen für Verschwörungstheorien empfänglicher als andere?
Oberhauser: Das Misstrauen gegenüber dem Staat oder den Medien ist ein sehr wichtiger Faktor: Viele Menschen sind empfänglich für eine politische Rhetorik, die sich gegen Eliten, den Staat bzw. „die da oben“ richtet. Vor allem bei Menschen, die sich machtlos fühlen oder Schwierigkeiten damit haben, Unsicherheit auszuhalten, zeigt sich eine sogenannte Verschwörungsmentalität. Andere haben eine Art Erweckungserlebnis und glauben sich im Besitz einer exklusiven Wahrheit bzw. eines „geheimen“ Wissens, das sonst niemand hat. Wieder andere benutzen Verschwörungstheorien als politische Strategien und bauen damit Sündenböcke auf.
Loewe Verlag: In Ursula Poznanskis Thriller werden die Anhänger der Verschwörung „Shelter“ genannt. Schnell ergeben sich gesellschaftliche Spannungen zwischen ihnen und den Gegnern der Verschwörung. Inwieweit kann eine Verschwörungstheorie eine Gefahr für die Gesellschaft sein?
Oberhauser: Verschwörungstheorien können zur Gewaltanwendung führen und tun das auch immer wieder. Es gibt verschiedenste Beispiele wie Anschläge, die dies klar dokumentieren. Auch in extremistischen Gruppierungen spielen Verschwörungstheorien eine große Rolle. Ein zweites Problem neben der direkten Gewaltanwendung sind indirekte Effekte, weil man andere damit gefährdet, wenn man sich aufgrund einer Verschwörungstheorie nicht an bestimmte gesellschaftliche Konventionen hält.
Loewe Verlag: Prof. Oberhauser, vielen Dank für das interessante Interview und die Zeit, die Sie sich hierfür genommen haben!